Pro Praxis

Pro Praxis

Über die Jahrzehnte und Jahrhunderte klafften Theorie und Praxis immer weiter auseinander. Dabei geriet die Praxis immer mehr ins Hintertreffen. Zu Unrecht, wie ich meine. Deshalb möchte ich versuchen, wieder eine engere Verbindung zwischen Theorie und Praxis herzustellen. Denn jede Theorie benötigt auch Praxis, um den Bezug zur Realität (wieder) herzustellen.

Viele, die studiert haben, werden sich mindestens einmal gewundert haben, wie wenig von dem, was im Studium an Wissen und Methoden vermittelt wurde, in der Praxis Anwendung findet. Nämlich mindestens dann, wenn sie vom Studium in einen praktischen Beruf übergewechselt sind.

Dennoch genießt die – theoretische – Wissenschaft und der von ihr betriebene Apparat höchstes Ansehen und es erscheint mehr erstrebenswert denn je, Abitur zu machen und zu studieren und eben nicht einen praktischen Weg zu gehen.

Ich will deshalb zunächst einmal eine Lanze für die Praxis brechen, indem ich in einem gedanklichen Experiment darlege, dass die Theorie eine ganz eigene Art Konstruktion darstellt, eine künstliche, eine zunächst nur in Gedanken existierende und eine in sich abgeschlossene Konstruktion, die stets eine Übersetzung von der um uns existierenden Realität in diese Theorie und zurück aus gewonnenen theoretischen Ergebnissen in die Praxis benötigt. Wir müssen uns sozusagen einen theoretischen Spiegel vorhalten, um genau die Schwächen des Theoretischen erkennen zu können. 

Selbst bei einer so einfachen Rechnung, die jeder von uns verinnerlicht hat, dass eins und eins zwei ergeben, ist eine „Übersetzung“, eine Umwandlung notwendig, und dies aus einem einfachen Grunde – und dieser Grund kann sowohl theoretisch dargelegt werden als auch der praktischen Erfahrung entspringen: in der um uns herum existierenden Realität gibt es keine zwei gleichen Dinge. Alles unterscheidet sich in gewissem Sinne von allem. Nichts existiert zweimal. Niemand kann zwei völlig gleiche real existierende Dinge herstellen oder beibringen. Das heißt, selbst die einfachste mathematische Operation mit zwei Gleichen, jede „Gleich-ung“, ist nur ein Konstrukt unseres Kopfes. Je geringer die Unterschiede zwischen den Dingen sind, umso einfacher fallen uns Übertragungen in mathematische Operationen und wir können mit den Dingen so umgehen, als ob sie eben gleich wären. Zwei Stühle können in etwa als gleich angesehen werden, selbst wenn sie sehr unterschiedlich sind, Hauptsache, man kann sie verschieben und darauf sitzen und es gibt so etwas wie Beine und eine Sitzfläche. Wir machen sie für unsere gedanklichen Konstruktionen gleich. Doch selbst zwei Stühle aus einer CNC-Produktion sind nicht gleich. Zwei Schneeflocken sind nicht gleich. Moleküle sind nicht gleich. Wir können weder die Gleichheit beweisen noch die Nicht-Existenz von Gleichheit. Warum nicht? Weil Mathematik und Realität nie völlig übereinstimmen können.Doch an diesem einfachen Beispiel wird bereits deutlich, dass eben auch eine theoretische Welt existiert. Eine Welt unserer Gedanken, der Mathematik, der abstrakten Konstruktion. Innerhalb dieser Konstruktion gibt es eine Reihe von Gesetzmäßigkeiten, die wir entdeckt haben, die uns bei richtiger Übersetzung sogar geholfen haben, die um uns existierende Realität besser zur kennen. Und dennoch versagt diese Konstruktion im ganz Großen wie im ganz Kleinen. Und vermutlich genau aus dem Grunde, dass eben keine zwei Gleichen im Universum existieren. In einem gedanklichen Experiment habe ich dies einmal versucht, durchzudeklinieren. Im Ergebnis können wir festhalten. dass durch uns Menschen, durch unseren Geist, zwei Arten von Welt existieren: eine theoretische, abstrakte in unserem Geist und eine praktische konkrete um uns herum.
Dadurch, dass sie in den für uns wichtigen Belangen weitgehend übereinstimmen und wir durch eine Art „Gleichmacherei“ eine verwendbare Übereinstimmung herstellen können, fällt im Alltag das Auseinanderklaffen dieser Welten kaum auf.Diese Welten treffen in der Physik aufeinander. Doch ist auch die ursprüngliche Physik ein intensives Studieren und Beobachten der Praxis. Aus dieser Praxis versucht man Trends und Gesetzmäßigkeiten abzuleiten, die eine Vorhersage für neue Konstruktionen ermöglichen. Und doch sind gerade in der Physik auch die Brüche zwischen Praxis und Theorie erkennbar. Und die besten Ingenieure sind jene, die noch über genügend Intuition, also lange praktische Erfahrung mit den Materialien verfügen.